Michael steht am Fenster und hat uns den Rücken zugekehrt. Sein Blick schweift von dem kleinen Bett in der rechten Ecke der Zelle zu dem Regal gegenüber. Einige Bücher stehen dort ordentlich eingeordnet, doch niemand liest sie mehr. Daneben zahlreiche Kassetten mit verschiedenen Beschriftungen darauf. Doch niemand wird sie mehr anhören. Dann driftet sein Blick zum Fenster. Draußen ist ein nebliger, trüber Tag, der zusammen mit den schweren, schwarzen Gitterstäben vor dem Glas eine düstere und traurige Stimmung zu verbreiten scheint. Vor dem Fenster steht ein großer alter Baum. Darauf sitzen einige Vögel nebeneinander. Sie schweigen. Michael dreht sich mit gesenktem Kopf zu uns. Als er aufsieht, ist sein Blick leer. „Das hier war ihre Zelle“, sagt er nur, „hier ist sie gestorben.
Vor drei Tagen hat sich Hanna Schmitz in ihrer Zelle im Staatsgefängnis erhängt. Sie wurde angeklagt, weil sie während des Nazi-Regimes als KZ-Wächterin in Auschwitz und Krakau eingesetzt war. Achtzehn Jahre Haft lagen hinter ihr, bevor sie nach einem Gnadengesuch entlassen werden sollte. Bekannt ist, dass Hanna Schmitz Analphabetin war, in ihrer Haftzeit jedoch lesen und schreiben gelernt hatte. Michael Berg, ihr jahrelanger "Vorleser" während ihrer Haftzeit, hat sich nun nach längerer Zeit dazu bereiterklärt, uns einen tieferen Einblick in das Leben der Hanna Schmitz und in die Beziehung der beiden, soweit es ihm möglich ist, zu geben.
Ein Leben in Angst
Hanna Schmitz war Mitte 30 als sie Michael Berg kennen lernte. Wie bereits vorher erwähnt, war sie Analphabetin, was sie jedoch ihr ganzes Leben geheim zu halten versuchte. Ständig wurde sie von der Angst begleitet, entdeckt zu werden. Die Folge war, dass sie aus dieser Angst, bloßgestellt zu werden, ständig ihren Wohnsitz und somit auch ihre Arbeit wechseln musste. So hatte sie zur Zeit ihrer Affäre mit Michael den Job als Straßenbahnschaffnerin. Als sie jedoch die Möglichkeit auf eine Weiterbildung zur Fahrerin gehabt hätte, wechselte sie, weil sie durch ihren Analphabetismus nicht in der Lage gewesen wäre eine Weiterbildung zu schaffen, den Wohnort und ließ damit nicht nur ihren alten Wohnsitz, sondern auch die Zeit mit Michael hinter ihr.
Was uns Michael ebenfalls erzählt hat ist, dass sie die Stelle als KZ-Wärterin darum angenommen hatte, weil sie die Beförderung bei Siemens nicht annehmen hatte können. Dies half ihr bei der Gerichtsverhandlung aber nichts, da sie aus Scham niemals zugegeben hätte, dass sie Analphabetin war, und KZ - Wärterin zu werden zu dieser Zeit der einzige Ausweg für sie dargestellt hatte. So kämpfte sie sich lieber durch 18 Jahre Haft, um sich dann aber kurz vor ihrer Freilassung umzubringen. Doch was war der Grund dafür? „Sie hatte wohl einfach Angst, wieder ein normales Leben zu führen. Das ist nicht unüblich für Häftlinge, die so lange im Gefängnis waren. Frau Schmitz war bis zu dem Tag, an dem Herr Berg sie abholen sollte, auch nie draußen gewesen. Sie lebte 18 Jahre lang praktisch isoliert, da war die Vorstellung von dieser plötzlichen Umstellung auf ein normales und geregeltes Leben einfach zu viel für sie.“ So die Leiterin des Gefängnisses.
„Unsere Beziehung war wie ein Flugzeug“
Michael Berg lernte Hanna kennen, als er gerade einmal 15 Jahre alt war. Er sei krank gewesen, sie habe ihm geholfen und von diesem Zeitpunkt an, sei sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. So erzählt uns Michael Berg. Die Beziehung wurde sehr stark von Hanna dominiert. Das könnte an dem großen Altersunterschied zwischen Hanna und Michael gelegen haben. Oft hätten sie gestritten und aus Angst, er könne sie verlieren, sei er immer wieder zurückgekrochen gekommen. Seine späteren Beziehungen seien ebenfalls sehr stark von Hanna dominiert worden. Er habe die Frauen mit ihr verglichen, nach Ähnlichkeiten mit ihr gesucht. Sei es im Geruch, der immer sehr prägend für ihn gewesen sei, oder auch in Gestiken anderen Merkmalen.
„Einmal, als wir einen Ausflug zusammen gemacht haben, habe ich sie kurz alleingelassen und ihr eine Notiz hinterlegt. Als ich zurückkam, war sie furchtbar wütend. Erst später begriff ich, dass sie die Notiz nicht lesen hatte können und deshalb so reagiert hatte“, erzählt uns Michael. Somit habe er sich auch das Verschwinden von Hanna und auch ihr Verhalten, das für ihn oft nicht nachvollziehbar gewesen sei, erst später erklären können. Weiters habe sie gewollt, dass Michael ihr vorliest. Selbst habe er sie nie lesen gesehen. Dieses Vorlesen wurde zu einem wesentlichen und wichtigen Ritual in ihrer Beziehung. Auch später noch, als Hanna Schmitz bereits verurteilt im Gefängnis saß, nahm Michael sich selbst beim Vorlesen auf Tonband auf und schickte Hanna diese Kassetten ins Gefängnis. Dazu sagt er uns, er habe nach all den Jahren den Kontakt zu ihr gesucht, wollte aber die Distanz zu ihr wahren und habe sie deswegen auch nie besucht. Nach ihrem Verschwinden habe er nach ihr gesucht und schlussendlich versucht, die Gedanken und die Sehnsucht nach ihr zu verdrängen. „Unsere Beziehung war wie ein Flugzeug und der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe.“ So beschreibt Michael uns das Ende seiner Beziehung zu Hanna Schmitz.
Doch ein richtiges Ende hat es wohl nie gegeben. Nach dem Tod von Hanna erhielt Michael die Nachricht, Hanna habe ihm einen Brief hinterlassen. „Es ist wohl so etwas wie ein Testament. Sie hat mich darum gebeten, ihr Geld, das auf der Sparkasse liegt, der Tochter zu geben, die mit ihrer Mutter damals die Zeit im Arbeitslager und den Brand in der Kirche überlebt hatte. Ich habe ihr dann auch nach längerer Zeit das Geld gebracht und wir haben uns gemeinsam dazu entschieden, das Geld der „Jewish League Against Illiteracy“ zu überweisen. Ich denke, dort ist es gut aufgehoben und kann sinnvoll verwendet werden." Es scheint nun so, als werde Michael Berg Hanna wohl nie ganz aus seinem Leben streichen können. Doch auch wenn Hanna Schmitz viele Fehler in ihrem Leben gemacht habe, könne sie wenigstens jetzt nach ihrem Tod solchen Menschen helfen, die am gleichen Problem leiden, wie sie es beinahe ihr ganzes Leben getan hat, und ihnen somit ein Leben in ständiger Angst und Hilflosigkeit ersparen. Sagte uns Michael Berg abschließend.
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