Montag, 22. Oktober 2007

Charakterisierung


Sie saß auf einem Stuhl und schaute konzentriert auf ihr Buch, das vor ihr lag.
Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Menschen gingen an ihr vorbei. Waren laut. Lachten. Doch sie schien nichts davon zu bemerken. Nur hin und wieder sah sie auf und starrte an die Decke. Aber nur kurz. Dann zog sie das Buch wieder in seinen Bann. Sie war in ihrer eigenen kleinen Welt. Niemand konnte sie stören.
Jeden Tag saß sie am gleichen Platz. Wenn man sie sah, konnte man vielleicht meinen, sie wäre allein, hätte keine Freunde. Vielleicht war es auch so.
Die Zeit verging und nur hin und wieder sah sie von ihrem Buch auf. Manchmal strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie war nicht besonders groß. Ihr Aussehen raubte einem nicht gerade den Atem. Doch sie strahlte eine solche Ruhe aus, wenn sie einfach nur dasaß und las.

Einmal setzte ich mich zu ihr. Als ich auf sie zu kam, sah sie mich nur kurz an.
„Hallo!“, sagte ich.
„Hallo!“, sagte sie leise und mit etwas brüchiger Stimme.
Ich setzte mich. Sie konzentrierte sich auf ihr Buch. Doch irgendwie war sie nicht mehr ganz so ruhig wie vorher, als sie noch allein war.
Nach einigen Minuten des Schweigens sagte ich: „Sag mal, was liest du denn da eigentlich?“
Sie sah nicht einmal von ihrem Buch auf und sagte nur: „Kennst du sicher nicht.“
„Woher willst du das denn wissen?“, fragte ich.
„Weil es fast niemand kennt.“, sagte sie. Sie sprach sehr leise. Beinahe flüsterte sie. Und immer wieder wich sie meinen Blicken aus. Also entweder sie war sehr schüchtern oder einfach ziemlich unfreundlich. Aber es war wohl doch einfach Schüchternheit.
Darauf sagte ich nichts mehr. Doch ich blieb noch sitzen. Sie sagte nichts. Aber ich bemerkte, wie sie immer wieder zu mir sah. Sie war nicht mehr ruhig. Ich hatte fast das Gefühl, ich würde sie stören. Dabei saß ich ja einfach nur da und tat gar nichts.

Keine Kommentare: